Tel Aviv: Wo Sorglosigkeit Pflichtprogramm ist
Last Updated on 15. März 2023 by Julia Schattauer
Inhalt
Last Updated on 15. März 2023 by Julia Schattauer
„Tel Aviv? Eine geile Stadt, da war ich letzten Monat erst wieder.“ Wo das Wort „Israel“ reihenweise skeptische Blicke auslöst, scheint Tel Aviv eine andere Nummer zu sein. Wer noch nicht dort war und nächtelang gefeiert hat, der hat zumindest Freunde, die da waren oder sonst irgendwie mitbekommen, dass es da echt cool sein soll. „Wie Berlin“, kommt dann meist noch hinterher. Cool, hip, sicher, offen, tolerant, geile Clubs, gute Restaurants, bestes Hummus, schöner Strand. Da ich noch ein paar Texte zu schreiben hatte und es langsam angehen wollte, buchte ich gleich vier Nächte im hippen Viertel Florentine.
Ich stehe in der Schlange am Einreiseschalter. Mein Herz pocht, schließlich hört man so einige Geschichten rund um Ein- und Ausreise in Israel. Als ich an der Reihe bin, fragt mich die junge Beamtin, wie lange ich bleiben will, wohin ich reise und meint, nachdem ich ihr meine geplanten Stationen Tel Aviv, Jerusalem und Haifa mitgeteilt habe: „Viel Spaß“, lächelt und legt den Einreiseaufkleber in meinen Pass. Das ging ja easy.
Hipsterviertel Florentine
Mit dem Zug fahre ich vom Flughafen in die Stadt. Ich setze mich in ein Abteil, in dem außer mir nur Soldaten sind. Ihre Waffen haben sie nicht dabei und sie scheinen noch sehr jung zu sein. Es sind Mädchen und Jungen um die 18, alle spielen am Smartphone oder hören Musik, laden ihre Handys, da es überall Steckdosen gibt oder surfen im Internet, da auch Wifi hier Standard ist. Eine ältere arabische Dame mit Kopftuch hievt ihren überdimensionalen Koffer durch den Gang. Ein junger Soldat steht auf, um ihr behilflich zu sein. Er spricht sie an, deutet auf den Koffer. Sie ignoriert ihn, dreht ihm den Rücken zu und schiebt den Koffer alleine weiter in Richtung Sitzplatz. Der junge Soldat murmelt etwas, was ich als „dann halt nicht“ deute, setzt sich und wendet sich wieder seinem Handy zu.
Die Gegend rund um den Bahnhof und Busbahnhof gilt als einzige, die nicht so ganz sicher ist. Das erfahre ich später von Eli, dem Mitarbeiter des Hostels. Ich merke es aber auch auf dem Weg nach Florentine. Seltsame Gestalten lungern herum, es sieht ziemlich dreckig aus und der Weg zieht sich wie Kaugummi. Ich wollte laufen, um einen ersten Eindruck von der Stadt zu bekommen, nun bereue ich, dass ich nicht den Bus genommen habe. Aber nun gut, ich komme heil am Hostel an und bin plötzlich mittendrin in der israelischen Gastfreundschaft. Eli macht eine kleine Vorstellungsrunde. Hier im Florentines Backpacker Hostel legt man Wert darauf, dass sich möglichst alle mit Namen kennen. Jeden Abend gibt es gemeinsames Abendessen, Happy Hour auf der Dachterrasse und später gemeinsame Party in einem der Clubs. Ehrlich gesagt mag ich Partyhostels nicht sonderlich und gemeinsame Clubabende sind auch nicht so mein Ding. Doch ich sehe auch sofort den Vorteil. In großen, eher anonymen Hostels, kann man sich zwar gut verkriechen, aber man bekommt auch keinen Anschluss, wenn man nicht zu den offensivsten Persönlichkeiten gehört. Hier im gemütlichen Florentine bin ich sofort integriert.
Eli zeigt uns auf einer Karte die wichtigsten Sehenswürdigkeiten und besten Viertel. Außer am Busbahnhof ist Tel Aviv überall sicher, meint er. Und überhaupt sei hier alles easy. Die Gegend um das Hostel ist das Hipsterviertel mit coolen Cafés, um den Rothshild Boulevard gibt es gute Restaurants. Der beste Markt ist etwas weiter nördlich, das hübsche Jaffa, die Altstadt, ganz in der Nähe. Und am wichtigsten in Tel Aviv ist sowieso der Strand. Hauptsache alles easy, erinnert uns Eli, der ganz in der Nähe des Hostels aufgewachsen ist und neben seinem Job noch Leiter in einem Restaurant ist. Entweder macht er bei der Frühschicht die Willkommensrunden oder er geht nachts mit den Gästen in den Club. Die restliche Zeit ist er im Restaurant.
Es ist fast schon schwierig von den anderen Hotelgästen, die fast ausschließlich Deutsche sind, wegzukommen, doch ich will erst einmal alleine los. Ich will die Stimmung aufsaugen, spüren, wie ich mich fühle. Noch kann ich nicht einschätzen, ob ich auf einmal Angst vor Anschlägen bekomme, ob mich die bewaffneten Soldaten sehr stören. Ich mache es mir leicht und gehe zunächst zum Strand.
Auf dem Weg dorthin laufe ich an so vielen Hipstercafés vorbei, dass ich mich echt wie in Berlin fühle. Unverputzte Wände, dekorative Sukkulenten und Flohmarktmöbel, drinnen Typen mit halblangen Haaren, Mädchen mit bauchfreien Tops und Karottenhosen. Am Strand angekommen gehe ich einfach drauf los. Der Sandstrand erscheint ellenlang und ich laufe und schaue und spüre einfach nur Erleichterung darüber, dem kalten Winterwetter in Deutschland entkommen zu sein. Ich bin erleichtert, dass der Flug und die Einreise so problemlos verliefen. Ich bin erleichtert, dass im Hostel genügend nette Leute sind, an die ich mich wenden kann, wenn ich Gesellschaft will.
14 Kilometer Strand
14 km Strand direkt an der Stadt. Hier ist für jeden der richtige Abschnitt dabei. Am Gordon-Strand treffen sich Senioren zur Gymnastik. An einigen Abschnitten sonnen sich die Russen. Weiter nördlich gibt es einen Strand für Ultra-Orthodoxe, an dem es Männer- und Frauentage gibt und genau daneben ist der Hilton-Beach am gleichnamigen Hotel, wo sich vor allem Schwulen, Lesben aber auch Familien treffen.
Ich sitze irgendwo auf halber Höhe und schaue auf die Wellen, als mich ein etwa 50-jähriger auf Hebräisch anspricht. Ich mache ihm klar, dass ich Touristin bin, was den in knapper Badehose gekleideten Mann scheinbar freut. Nachdem er mir versichert, dass ich total israelisch aussehe, fragt er, wie es mir hier gefällt. „Gut“ sage ich und füge hinzu, dass ich erst angekommen bin. Er gibt mir ein paar Tipps und ich befürchte, dass ich den gesprächigen Kerl so schnell nicht mehr loswerde. Ich suche schon nach Ausreden, warum ich bald weg muss, aber nach ein paar weiteren Sätzen wie dem obligatorischen „oh, Berlin ist toll, da war ich auch schon“, wünscht er mir viel Spaß auf der Reise, einen schönen Strandtag und geht weiter. Die Israelis sind offen. Es vergeht kein Tag, an dem ich nicht auf der Straße, im Café oder im Bus angesprochen werde. Doch im Gegensatz zu manch anderen Reisen, sind die Israelis total angenehm. Sie reden ein paar Sätze und lassen einen dann wieder in Ruhe, nicht ohne zu betonen, dass man noch viel Spaß haben soll in Israel.
Ping-Pong scheint hier am Strand schwer in Mode zu sein und alle paar Meter muss ich einen Ball aufheben und zurück werfen. Zu viel Sport für meinen Geschmack. Irgendwie kommen mir hier alle total hübsch vor. Gebräunt, dünn, trotzdem nicht so mainstreamig. Cool und lässig geht es hier zu. Die Türme für Bademeister und die Liegen könnten so in Miami stehen. Auf der Promenade fahren Leute mit E-Bikes, Inline-Skates oder joggen. Ein- oder zweimal sehe ich ein Pärchen, das Hand in Hand und mit der Maschinenpistole am Strand flaniert.
Beim Rückweg zum Hostel komme ich wieder an dem riesigen bunten Gebäude am Strand vorbei, das leersteht. Hier treffen sich freitags zum Shabbat Hippies und Hare-Krishna-Anhänger um auf Bongos zu trommeln, zu tanzen und zu singen. Das Gebäude war früher ein Club, in dem vor allem die russischen Einwanderer feiern gingen. Als am 1. Juni 2001 unzählige Menschen in der Schlange am Einlass des Dolphinarium warteten, sprengte sich ein Attentäter in die Luft und tötet 21 Menschen. Bis heute steht das Dolphin als Mahnmal am Strand.
Antike und Moderne
Tel Aviv ist gerade einmal gute hundert Jahre alt. 66 Gründerfamilien fingen 1909 mit der Bebauung an. Heute leben hier rund 400.000 Menschen. Wo früher nur Wüste war, blüht heute das Leben. „Frühlingshügel“ heißt Tel Aviv und das passt zur Stimmung. Es heißt, in Jerusalem wird gebetet, in Haifa gearbeitet und in Tel Aviv gelebt. Neben der jungen Stadt befindet sich das alte Jaffa, eine Hafenstadt, die bereits seit der Antike besteht. 3500 v. Chr. haben hier schon Menschen gelebt. Mittlerweile ist Jaffa ein Stadtteil von Tel Aviv und der vielleicht beliebteste Ort bei Touristen, allein schon wegen des Flohmarkts. Ich mache hier eine Walking Tour mit und laufe mit der Gruppe Treppen hoch und wieder hinab. Höre unzählige Zahlen und Namen von Völkern, die die Stadt besetzt hatten. In der Altstadt leben heute in erster Linie Künstler. Was lange Zeit als heruntergekommen galt, ist heute die teuerste Wohngegend der Stadt.
Bei der Führung, die in Israel immer nur von zertifizierten und vom Staat geprüften Guides durchgeführt werden dürfen, kommt vor allem immer eines zur Sprache: Die Angst, beziehungsweise das Gegenteil, denn die junge Frau, die uns begrüßt betont immer wieder, wie sicher es in Tel Aviv sei. „Na, wie haben eure Freunde und Familie reagiert, als ihr von euren Israelplänen berichtet habt, begeistert? „, sie zwinkert und deutet an den strahlend blauen Himmel und zum Strand, „überall Raketen, Krieg, total schlimm hier!“. Am Ende der Tour ist es ihr ein Anliegen, dass wir alle unseren Freuden erzählen, wie toll Tel Aviv ist, dass es hier sicher sei und alle doch einmal herkommen sollen, um es selbst zu sehen.
Nach vier absolut angenehmen Tagen mit viel Sonne, Strand, Marktbesuchen, Granatapfelsaft und Hostelabenden voller guter Laune wird es mir irgendwie zu viel. Ich will das echte Israel kennenlernen und aus dieser heilen Welt aus Sonne, Sommer, guter Laune raus. Eli ist eh schon böse auf mich, weil ich mich allabendlich weigere mit in den Club zu gehen. Ich versuche ihm immer wieder klarzumachen, dass ich einfach keine Lust auf Clubbing habe und er ist ernsthaft beleidigt und findet mich ziemlich unool. Mich zieht es weiter nach Jerusalem, zum Toten Meer, nach Haifa, Akko, Nazareth, bevor ich am Ende meiner Reise wieder in Tel Aviv im Florentine Hostel sitze. Die Stimmung ist wie immer gut, ich fühle mich gleich ein wenig zuhause und nach meiner Reise durchs Land weiß ich, dass Tel Aviv wirklich anders ist, als der Rest des Landes. Tel Aviv hat einen Ruf zu verlieren. Hier ist man tolerant, gut gelaunt, gayfriendly. Hier geht es nicht um Krieg oder Konflikte, hier stehen Strand und Party an der Tagesordnung.
An meinem letzten Abend in Israel lasse ich mich breitschlagen und gehe mit den Leute aus dem Hostel trinken. Wir sind zuerst in einer Kneipe, beziehungsweise davor, denn es ist trotz November noch immer total warm am Abend. Ich plaudere mit Zac aus den USA, mit Linda aus Bulgarien, mit den Mädels aus der Schweiz und mit einem Typen aus dem Hostel, der in Tel Aviv geboren und aufgewachsen ist. Irgendwann, nach ein paar Bieren und dem Gespräch über Trump und Netanjahu sagt er: „Weißt du, ich würde mich als links bezeichnen, habe ewig vegan gelebt aber was diese Moslems angeht…“ er zögert, „ich habe nichts gegen die, aber ich will die nicht in meiner Nähe haben“. Da bröckelt die Fassade und zwischen all dem Happy-Life kommt für einen kurzen Augenblick das an die Oberfläche, was im Inneren brodelt. Ich bin sprachlos und unfähig irgendwie zu reagieren. Ich glaube ich verstehe, warum Tel Aviv so ist, wie es ist. Einfach den Kopf ausschalten. Sorgen, Sorgen sein lassen. Einmal einfach nur ein unbeschwerter junger Mensch sein, der nicht in seiner Jugend gelernt hat, auf Menschen zu schießen. Am nächsten Tag verlasse ich Tel Aviv und Israel mit mehr Fragen als Antworten. Und bis heute kann ich schwer antworten, wenn mich jemand fragt, ob ich Israel als Reiseland empfehlen kann. Ich jedenfalls bin froh, dass ich mir ein eigenes Bild machen konnte.
Du hast Interesse an Aktivitäten mit Einheimischen? Dann schaue mal bei GetYourGuide vorbei. (Affiliate Link)
Warst du auch schon in Tel Aviv? Wie hast du die Stimmung dort erlebt? Gerade im Vergleich zu zum Beispiel Jerusalem? Ich bin gespannt!
Ein Kommentar
Pingback: